17. November 2005

Stellungnahme des Blauen Kamels zur Veranstaltung am 16.11.2005

Das Gute zuerst: Das Blaue Kamel wendet sich nicht gegen fachgerechte Steuerung von Kosten der Eingliederungshilfe.

  • Wir wenden uns nicht gegen Gesamtpläne, die auf Augenhöhe mit Betroffenen geschlossen werden
  • Schon gar nicht wenden wir uns gegen passgenaue Hilfen im Einzelfall, die Unter- , Über- und Fehlversorgung vermeiden.
  • Wir wenden uns nicht gegen qualifizierte, fachlich begründete Entscheidungen über öffentlich finanzierte Rehabilitationsleistungen.

 

Aber: Durch die Einführung der Hartz-IV-Gesetze ist eine einzigartige Verschiebungsaktion zwischen unterschiedlichen Kostenträgern entstanden. Über die Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Städten und Gemeinden konnte man zum Beispiel in der Zeitung lesen. Sie schlagen sich auch in der Finanzplanung Berlins bis zum Jahre 2009 nieder. Weil durch die Hartz-IV-Gesetze eine Reihe von Grauzonen entstanden sind, gewinnt der, der diese Grauzonen kreativ für sich ausnutzt, also Pflöcke einschlägt.
In dieser Atmosphäre bedeutete die Einführung des Fallmanagements die Schaffung eines riesigen "Verschiebebahnhofs". Auf diesem Verschiebebahnhof sollen gigantische Kostenverschiebungen stattfinden, wobei den Verantwortlichen bewusst ist, "dass jede Leistungseinschränkung mit entschiedenem Widerspruch der Betroffenen zu rechnen hat" (Originalton Bezirksamt Spandau), wodurch zusätzliche Arbeitskapazitäten in diesen "Stellwerken" gebunden werden.
Die Weichenstellungen auf diesem Verschiebebahnhof werden durch Fallmanager vorgenommen. Um dieses Ziel möglichst rasch und erfolgreich zu erreichen, wird die Finanzierung der Fallmanager an deren Verschiebungserfolge geknüpft. So heißt es in der Zielvereinbarung: "Grundsätzlich soll erfolgreiches Arbeiten belohnt werden, bei Ausbleiben des Erfolges die Belohnung aber entfallen." Die erwarteten Personalkosten sollen durch die Einsparungen gerechtfertigt werden: "Haushaltsentlastung durch verstärkten Personaleinsatz". In der Zielvereinbarung wird vereinbart, diese personellen Mehrkosten dann finanziell abzusichern, wenn die Bezirke ihre Pflicht erfüllen, nämlich Einsparungen bei den Transferausgaben der Eingliederungshilfe zu erzielen.
Damit die Fallmanager ihre Aufgaben – unabhängig  von den konkreten Bedürfnissen des Einzelfalles – realisieren können, wird die Rolle der Fachstellen in den Bezirksämtern nachhaltig verändert. Die in der Beratungsstelle für Behinderte und dem Sozialpsychiatrische Dienst beschäftigen Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, erhalten durch die Einführung des Fallmanagements (und durch die Veränderungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes generell) eine neue Rolle: Sie haben all ihre verfügbaren "Ressourcen entsprechend den Anforderungen des Sozialamtes zur Verfügung zu stellen" (Zitat Spandau), dies heißt die Schnittstelle zwischen Fallmanagement und öffentlichem Gesundheitsdienst.
Wenn Eingliederungshilfeleistungen aufgrund medizinischer und/oder sozialpädagogischer Gutachten dieser Fachstellen zu erbringen sind, diese aber von der Sachbearbeitung im Sozialamt mangels Fachkompetenz schwer zu beurteilen sind, entsteht ein Zielkonflikt , der nun zugunsten der Sachbearbeiter, also der künftigen Fallmanager entschieden wird. Empfehlungen der Fachdienste sollen künftig stärker die Kostenfrage berücksichtigen und bei der Feststellung des Hilfebedarfes die Einschätzungen der leistungserbringenden Träger kritischer hinterfragen. Nur der Fallmanager steuert, das heißt, die beteiligten Fachstellen übernehmen – auf Wunsch des Fallmanagers – untergeordnete Dienstleistungsfunktionen.
Der Fallmanager kennt also den internationalen ICF-Katalog, in dem Teilhabeeinschränkungen dargestellt sind, er kann die Vermehrung der Fallzahlen aufgrund demographischer Entwicklungen steuern, seine Entscheidungen sind ethisch begründet, denn er sieht in dem "Fall" vor allem den Menschen, der Hilfe braucht.
Der Fallmanager kann schlicht alles: er kann mit Menschen kommunizieren, die zum Teil existenzielle Hilfe brauchen, er kennt die Versorgungslandschaft, vor allem für Preise in Berlin, er besitzt betriebswirtschaftliche Kenntnisse, er ist kreativ, er kann Prognosen für die Zukunft erstellen, er ist konfliktfähig – er ist ein echter "Tausendsassa" – eine Mischung aus Amtmann, Miraculix und Bill Gates. Mit allem Respekt für die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung: derartige Persönlichkeiten gibt es auch dort nur in seltenen Ausnahmefällen. Der Fallmanager ist ein Phantom. Dieses Phantom erlangt nun große Macht über Menschen mit Behinderungen, die von ihm abhängig sind, denn er soll nun Züge auf dem Verschiebebahnhof rollen lassen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Widerspruch eines Betroffenen gegen die Entscheidung seines Fallmanagers vom selben Bezirksamt bearbeitet wird, das auch die angegriffene Entscheidung gefällt hat. Es gibt keine Überprüfung durch eine dritte, neutrale Stelle, abgesehen von einem Verwaltungsgerichtsverfahren mit mehrjährigen Wartezeiten. Welche "Züge" sollen auf diesem "Verschiebebahnhof" rollen?

1. Der Sonderzug "Pflege vor Rehabilitation"
Das Land Berlin strebt an, durch eine Anlage zur bestehenden Leistungs- und Qualitätsvereinbarung nach SGB XI für über 55-jährige Menschen mit geistigen Behinderungen die Kosten der Eingliederung, Teilhabe und Förderung zulasten der Pflegeversicherung zu verschieben. Das gleiche plant Spandau für über 65jährige.
Das "Blaue Kamel" ist 1996 entstanden, als die Einführung der Sozialen Pflegeversicherung für Menschen mit Behinderungen große Befürchtungen und auch Ängste auslöste. Es wurde befürchtet, dass Einrichtungen der Eingliederungshilfe in reine Pflegeeinrichtungen umgewandelt werden. Es kam zu einer Reihe von Streitigkeiten und damit verbundenen Gerichtsverfahren. Im ersten Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der Pflegeversicherung hieß es im Bezug auf Menschen mit geistigen Behinderungen, dass sie einen sehr unterschiedlichen Hilfebedarf haben und dass dies im Widerspruch zu dem klar geregelten Begriff der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen der §§ 14 und 15 SGB XI steht. Im Ergebnis hat der Gesetzgeber bei der Einführung des SGB IX einen § 40 a in das damalige BSHG, heute § 55 SGB XII, aufgenommen. Dieser stellt sicher, dass die Hilfe in Einrichtungen der Eingliederungshilfe auch Pflegeleistungen ganzheitlich einschließt. Diese klare sozialpolitische Vorgabe und gesetzliche Regelung soll nun durch Einzelfallentscheidungen von Fallmanagern mit dem Ziel der Kostenverschiebung aus dem Landeshaushalt in die Pflegekasse unterlaufen werden. Das Blaue Kamel fordert den klaren Vorrang von Eingliederungsmaßnahmen vor Leistungen der Pflege!

2. Der Schnellzug "Rente vor beruflicher Eingliederung"
Das Blaue Kamel befürchtet, dass Menschen mit Behinderungen, die durch ihre berufliche Tätigkeit Rentenansprüche erworben haben, bei der Verlängerung von Beschäftigungsmaßnahmen, zum Beispiel in Werkstätten, gedrängt werden, stattdessen Rentenanträge zu stellen und aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Ihre Renten werden dann auf den Kostenträger übergeleitet. Die Kostenbeteiligungen, die Berlin so erlangt, sind höher als bisher. Der behinderte Mensch verliert seine berufliche Eingliederung. Das Blaue Kamel fordert die Sicherstellung von beruflicher Rehabilitation vor Rente!

3. Der Interregio "Stationär vor Ambulant“
Wenn Menschen mit Behinderungen in ambulanten und sehr kostengünstigen Wohnformen nicht mehr ausreichend versorgt werden können weil sie zum Beispiel wegen ihres Alters und der Berentung während des Tages nicht mehr betreut werden, so wird schnell auf den Interregio „Stationär vor Ambulant“ umgestiegen. Da in den zu schaffenden Leistungsbeschreibungen für Menschen mit geistigen Behinderungen in Pflegeeinrichtungen die Tagesstruktur stets vorgesehen wird, wird wegen eines entsprechenden Betreuungsbedarfs in eine Pflegeeinrichtung verwiesen. Dies führt zur doppelten Einsparung für den Fallmanager. – Wir fordern den Vorrang der ambulanten Dienste vor stationären Angeboten!

Die kurze Zeit erlaubt es nicht, alle Transportmittel der Kostenverschiebung aufzuzählen. Erwähnt werden soll nur der "Transrapid Persönliches Budget", dessen technologische Grundlage noch in der Entwicklung ist.

  • Das "Blaue Kamel" befürchtet sozialstrukturelle Weichenstellungen, bei denen Interessen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen kurzfristigen Sparvorgaben untergeordnet werden. Der "Stadtstaatenvergleich" hat gezeigt, dass Berlin sowohl über ein kostengünstiges, fachlich gut differenziertes als auch leistungsfähiges Hilfesystem für Menschen mit Behinderungen verfügt. Allerdings hat Berlin eine Überausstattung im Bereich der öffentlichen Verwaltung im Vergleich mit anderen Stadtstaaten. Das Blaue Kamel sieht mit Sorge, dass diese Strukturen unter Ausschaltung fachlicher Diskussionen und Entscheidungen zum "Steinbruch" für Einsparungen gemacht werden sollen.

  • Das Blaue Kamel fordert daher klare, fachlich begründete, sozialpolitisch verantwortete Vorgaben und Richtungsentscheidungen für das Land Berlin, damit eine Praxis der einheitlichen Leistungsgewährung sicher bleibt.

  • Das Blaue Kamel wendet sich dagegen, dass eine Haltung in der Verwaltung produziert wird, die bewährte Strukturen zum Steinbruch für Sparmaßnahmen macht, ohne die Interessen der Einzelnen zu berücksichtigen, und: Wir wenden uns dagegen, dass hinter den verschlossenen Türen der Verwaltung weitreichende Strukturentscheidungen getroffen werden, ohne die verschiedenen Beteiligten zu informieren oder gar einzubeziehen. Es war uns von der politischen Spitze der Senatsverwaltung zugesagt worden, vor wichtigen, schwerwiegenden Entscheidungen frühzeitig beteiligt zu werden. An diese Zusage möchten wir heute noch einmal erinnern.

Vielen Dank!

Reinald Purmann für das Aktionsbündnis Das Blaue Kamel