01. Dezember 2007

Mahnort für den Schutz des Lebens

Beitrag in der VdK-Zeitung 12/2007. Eine Bushaltestelle in Tiergarten wird zur Gedenkadresse für die Opfer der "Patienten-Morde"

Tiergartenstraße 4 war die Absenderadresse für hunderttausendfache Todesurteile gegen behinderte Menschen, Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, hilflose und wehrlose Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Tiergartenstraße 4 war Auftraggeber für die Abtransporte von Menschen in damals als geheim gehaltene Tötungseinrichtungen. Orte mit Pflegeeinrichtungen wie Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, Hadamar in Hessen oder Brandenburg an der Havel waren Endstationen für die Todgeweihten. Lange Jahre war der Ort Endstation der Buslinie 48. Mehr als 60 Jahre nach den Medizinverbrechen ist die Tiergartenstraße heute ein eher unauffälliger Ort im Stadtgebiet. Bestehend aus Bushaltestellen und Parkplätzen, ungemütlichen und zugigen Freiflächen in der Nachbarschaft der Philharmonie.

Seit 1987 erinnert eine Bronzeplatte am Boden in der Tiergartenstraße an die vielen Opfer und die wenigen verurteilten Täter dieser Verbrechen. Nur der Eingeweihte weiß, dass die zwei gebogenen Stahlplatten des Bildhauers Richard Serra einen Bezug zu diesem Gedenken haben. Die Bronzetafel wird von Passanten kaum bemerkt, im Herbst von Laub und im Winter von Schnee bedeckt, leider in den letzten Jahren immer wieder geschändet.

Ein Ort verändert sich. Seit Anfang des Jahres trifft sich auf Initiative von Professor Andreas Nachama, Stiftung Topographie des Terrors, ein "runder Tisch" zum "Gedenkort Tiergartenstraße 4". An diesem "runden Tisch" sitzen Fachstellen wie die Stiftung Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und vor allem Betroffeneninitiativen, beteiligte Verwaltungen des Landes und des Bezirkes Mitte und Einzelpersönlichkeiten wie Sigrid Falkenstein, deren Tante Opfer der Medizinverbrechen wurde.

Der "runde Tisch" will die anonymisierte Freifläche zu einem würdigen Gedenkort für die vielen hunderttausend Opfer der Patientenmorde verändern. Der erste Schritt war die Aktion des "Blauen Kamel", den exakten Ort der Euthanasie-Zentrale zu markieren. Es stellte sich heraus, dass - abgesehen vom Eingangsbereich, der abgesteckt wurde - die Philharmonie exakt dort steht, wo früher am Schreibtisch Verbrechen gegen die Menschlichkeit geplant und vorbereitet wurden. Was sagt uns das?

Am 25. Oktober 2007 - ein weiterer Schritt zur Veränderung: Auf Initiative des Journalisten Ronny Goltz und mit tatkräftiger Unterstützung der WALL AG wurde die Bushaltestelle direkt vor der Philharmonie umgewandelt in eine "Info-Haltestelle" mit Informationen zur "Aktion T 4". Die Einweihung dieser Haltestelle, der vierten Info-Haltestelle im Stadtgebiet, wurde von prominenten Vertretern und Institutionen besucht. Professor Nachama beschrieb den aktuellen Veränderungsprozess auf dem Gelände: Die nächste Aktion wird die Errichtung des temporären Mahnmals "DER GRAUE BUS" am 18. Januar 2008 sein. Der "GRAUE BUS" erinnert an die Transporte der Opfer, mit denen die Spuren des Verbrechens verdeckt werden sollten.

Mittelfristig ist aber geplant, im Rahmen einer Neuordnung der gesamten Freifläche zwischen der Tiergartenstraße und Neuer Kunstgalerie ein Mahnmal für die Opfer der Euthanasie zu schaffen. Eindrucksvoll waren die Worte des Rabbiners Yisachar Shlomo Teichtal, der darauf verwies, dass jedes Mahnmal ja nicht nur an die Vergangenheit erinnert, sondern auch ein Wegweiser für die Zukunft ist. In diesem Sinne ist es interessant, wie sich ein anonymer, unwirtlicher Ort im Stadtgebiet wandelt zu einem Mahnort für den Schutz des Lebens.

Besonders eindrucksvoll war am Rande der Veranstaltung ein Gespräch mit Jochen Kreyssig. Jochen Kreyssig ist der Sohn des Amtsrichters Kreyssig aus Brandenburg, möglicherweise der einzige (!) Jurist, der sich der Tötungsmaschinerie in den Weg stellte: Er erstattete Strafanzeige gegen die Verantwortlichen und intervenierte beim Reichsjustizminister, dass Morde an Menschen, für die Kreyssig Vormund war, auch dann eine Straftat bleiben, wenn sie amtlich gebilligt werden.

Wenn die Umgestaltung der Tiergartenstraße 4 beendet ist, wird ein Informationszentrum dazugehören. Es wäre schön, wenn dort auch solche Persönlichkeiten gewürdigt werden.

Reinald Purmann

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