11. Mai 2020

Was wird aus dem Berliner Sonderfahrdienst nach Corona?

Der folgende Beitrag von Reinald Purmann, Aufsichtsrat Cooperative Mensch eG, und Sieghard Gummelt, Sprecher Das Blaue Kamel, beleuchtet einen aktuellen Beschluss der Berliner Sozialverwaltung kritisch.

 

Stay home auch nach Corona – für schwerstbehinderte Menschen?

In Zeiten von globalem Lockdown und Stay home von Mobilität zu sprechen, schon gar der von Menschen mit Behinderungen, erscheint herbeigeholt und luxuriös. Jedenfalls im Stress des schnellen Denkens.

Der ÖPNV (BVG und S-Bahn) hat keine Beförderungspflicht für alle Bürger in Berlin. Daher gibt es den Sonderfahrdienst des Landes Berlin ("Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes", Fassung vom 15.09.2015). Das Angebot des SFD laut VO ist Mobilität zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in der Bundeshauptstadt – in der Verwaltungssprache: die "Freizeit-Fahrten".

Sechs Fahrdienste führen den SFD durch, daneben gibt es eine ganze Reihe zum Teil kleiner und inhabergeführter Fahrdienste, die Arbeits- und Arztfahrten durchführen. Das ausbalancierte Angebot nutzt allen Beteiligten: Das Fahrzeug, mit dem am Morgen und Nachmittag Fahrten zur Werkstatt oder Tagesförderstätte durchgeführt werden, steht dann für Fahrten zur Erledigung privater Angelegenheiten wie Einkaufen, Friseurtermin, beim Rechtsanwalt, bei Behörden, zur Bank usw. zur Verfügung und am Abend geht es zum Sport, zum Club, zum Kaffeetrinken, zum Geburtstag, zu Verwandten und Freunden, ins Konzert, das Kino oder die Kneipe.

Mobilität entsteht durch Fahrleistung. Fahrleistung erbringt eine bedarfsgerechte Flotte von inklusiven Fahrzeugen.

Durch den Pandemie-Modus ist die Mobilitätsleistung seit März nun auf maximal 10–15 % reduziert. Die Transportunternehmen haben – wie sehr viele Gewerbebetriebe – Existenzsorgen. Ihre Kapazitäten verursachen hohe Fixkosten, aber keine Einnahmen. Eine spezialisierte Fahrzeugflotte steht zur Disposition.

Die Bundesregierung hat Ende März 2020 durch das SodeG einen Schutzschirm für die soziale Infrastruktur des Landes für die Zeit nach der Pandemie beschlossen. Die Nachhaltigkeit der Daseinsfürsorge soll so gesichert werden. Die Fahrdienste sind selbstverständlich ein Teil davon.

Der Senat von Berlin hat dies durch Beschluss und eine Presserklärung dazu vom 30. März 2020 für den SFD (Zentrale und Transportunternehmen) bestätigt. Nur diese Fahrdienste wären durch SodeG geschützt. Dazu soll die VO verändert werden. Der Schutz schließt dann nur die sechs Fahrdienste ein, die bisher "Freizeitfahrten" im SFD sicherstellen. Und: Der SFD soll auch Arztfahrten übernehmen. Die vielen Anbieter von Arbeits- und Artfahrten außerhalb des SFD gehören nicht zum Kreis der Begünstigten. Sagt die Sozialverwaltung.

Die Trennung der Freizeitfahrten (die aus dem SGB IX abgeleitet werden) und den Krankenfahrten (für die GKV zuständig ist) und von Fahrten zu Arbeit und Beschäftigung (SGB IX „Klassik“ aus SchwbG) war 2004 von Senatorin Knaake-Werner durchgesetzt worden, um die Mittel des Landes auf den dringenden Bedarf zu konzentrieren. Nicht um beispielsweise Krankenkassen und andere Reha-Träger zu entlasten, die eigene Verpflichtungen zur Mobi-Assistenz haben. In diesen Fällen sind die Auftraggeber die Krankenkassen, aber auch die Werkstätten oder die einzelnen Bewohner. Und das soll nun den Ausschluss vom SodeG begründen.

Tatsächlich fehlt Berlin ein Ausführungsgesetz zum Bundes-SodeG, wie es Brandenburg längst hat. Wer hat Ansprüche auf diese Leistungen, wer ist für was zuständig, wo werden Anträge gestellt, wie ist das Verfahren – Dinge, die Brandenburg durch ein Ausführungsgesetz geklärt hat. Stattdessen regelt die Sozialverwaltung jetzt exklusiv für einige Fahrdienste, die den SFD bedienen, eine Erweiterung ihrer Aufgaben. Wenn aktuell nur 15 % des Auftragsvolumens im SFD ausgelastet sind, dann können diese Kfz auch Arztfahrten übernehmen (und zusätzlich SodeG kassieren?)

Damit wird das Leistungsvolumen des Transportsystems für behinderte Bürger – dessen Nachhaltigkeit SodeG absichern will – in Frage gestellt: Denn ohne SodeG und in Konkurrenz um die verbleibenden Arztfahrten werden Fahrzeuge stillgelegt. Und nach Corona schrecklich fehlen.

Was bedeutet das für die Mobilität behinderter Menschen in der Zeit nach der Pandemie?

Was wird getan um die gesamtstädtische Struktur der rund zweihundert spezialisierten Verkehrsunternehmen in der Mobilitätsassistenz für behinderte Menschen zu schützen und nicht nur die sechs Betriebe, die aktuell für den SFD fahren?

Die BVG ist auf dem richtigen, generationenlangen Weg zur Inklusion. Innovative Taxiangebote befinden sich in der Entwicklung und Erprobung. Pandemien kommen und gehen, Mobilitätsbedarf bleibt. Wie wird das Mobi-Angebot nach der Pandemie aussehen?

 

Reinald Purmann, Mitglied im Aufsichtsrat Cooperative Mensch eG
Sieghard Gummelt, Sprecher für das Aktionsbündnis DAS BLAUE KAMEL

Berlin, Mai 2020

Stay home auch nach Corona – für schwerstbehinderte Menschen? [pdf 77 kB] zum Download